Veranstaltung: | Landesmitgliederversammlung Hamburg |
---|---|
Tagesordnungspunkt: | 9 Anträge |
Antragsteller*in: | Michael Gwosdz |
Status: | Angenommen |
Verfahrensvorschlag: | Abstimmung (Angenommen) |
Eingereicht: | 01.04.2024, 22:08 |
A20: Menschenrechtliche Standards für Geflüchtete sicherstellen – Sozialkarte in Hamburg human ausgestalten
Antragstext
„Die Verwirklichung umfassender räumlicher Bewegungsfreiheit für alle ist aufs
Engste mit der Zukunft der Demokratie verknüpft.“ (Volker Heins)
Das Recht auf Asyl ist ein individuelles Grund- und Menschenrecht, das unteilbar
jedem Menschen zusteht. Dieser rechtliche Standard, der mehr als nur eine
humanitäre Großzügigkeit ist, steht in Europa und in Deutschland so stark unter
Druck wie schon lange nicht mehr.
Mit den europäischen Beschlüssen zum Gemeinsamen Europäischen Asylsystem (GEAS)
schottet sich die Europäische Union zunehmend nach außen ab. Beispielhaft
genannt sei hier die Idee, Asylverfahren in Drittstaaten („Ruanda-Modell“)
durchzuführen.
Die Abschottung nach außen macht in den allermeisten europäischen Staaten nicht
bei einer Beschneidung der Rechte derjenigen Halt, die neu ins Land kommen
möchten. Nach außen geschlossene Gesellschaften tendieren auch zu einer
Abschottung nach innen und zu einer Begrenzung und Beschneidung der Rechte von
Personen, die als Schutzsuchende schon angekommen sind - insbesondere jenen
Personen, die mit einem unsicherem Aufenthaltsstatus bereits in einem Land
leben.
In Deutschland zeigt sich hier derzeit ein ambivalentes Bild. Einerseits hat die
Bundesregierung aus SPD, FDP und uns GRÜNEN einige progressive Entscheidungen
getroffen: Langzeitgeduldete Menschen erhalten mit dem Chancenaufenthaltsrecht
eine Möglichkeit, in den gesicherten Aufenthalt zu wechseln. Die zeitlichen
Voraussetzungen für die Erteilung von Aufenthaltstiteln an gut integrierte
Menschen mit Duldung wurden ebenfalls verkürzt. Beschäftigungsverbote wurden
reduziert und wer arbeitet, kann über die Beschäftigungsduldung künftig
einfacher vor Abschiebung geschützt werden. Andererseits verharren Menschen
künftig statt 18 nun 36 Monate im Leistungsbezug des
Asylbewerberleistungsgesetzes, was vor allem auch den Zugang zur
Gesundheitsversorgung massiv beschränkt. Auch in gerichtlichen Verfahren wurden
die Verfahrensrechte der Betroffenen zuletzt eingeschränkt. Das fragwürdige
Konstrukt der sicheren Herkunftsstaaten wurde ausgeweitet. Gleichzeitig haben
wir Grüne mit dem Recht auf einen Rechtsbeistand für von Abschiebung Bedrohte
einen wichtigen Punkt in ein ansonsten von uns nur schwer mittragbares Gesetz
hineinverhandelt.
Ein weiterer Punkt, bei dem wir auch in Hamburg durchaus Mitsprache in der
Ausgestaltung haben, beschäftigt uns in den letzten Wochen besonders: die
Infragestellung des uneingeschränkten Zugangs zu Leistungen nach dem
Asylbewerberleistungsgesetz durch die sogenannte Bezahlkarte.
Ursprünglich ist eine digitale Bezahlkarte aus unserer Sicht durchaus keine
schlechte Idee. Denn viele Geflüchtete haben zunächst kein Girokonto in
Deutschland. Die Geldleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, die ihnen
zustehen, müssen sie daher jeden Monat in Form von Bargeld abholen. Das
bedeutete für die Betroffenen bisher stundenlanges Anstehen, für die Verwaltung
enormen Aufwand. Eine digitale Bezahlkarte kann hier unbürokratisch Abhilfe
schaffen bis die Betroffenen ein eigenes Konto eröffnet haben.
Die Konferenz der Ministerpräsident*innen (MPK) als informelles Gremium hat im
November 2023 jedoch ein sehr restriktives Modell einer Bezahlkarte
vorgeschlagen und übt nun Druck auf die Parlamente aus, diesem für eine
Umsetzung zuzustimmen. Teilweise wird sie an den Parlamenten vorbei als Modell
eingeführt. In Hamburg haben SPD-geführte Behörden nach dem MPK-Beschluss gegen
den entschiedenen Widerspruch des grünen Koalitionspartners sehr schnell, ein
entsprechendes Modellprojekt eingeführt, bei dem wir an mehreren Punkten in der
Ausgestaltung nach wie vor Kritik haben.
Die Bezahlkarte soll nach Vorstellung der MPK den Zugang zu Bargeld stark
begrenzen. Es sollen keine Überweisungen ins Ausland möglich sein, keine
Teilnahme am Onlinehandel und die Funktionsfähigkeit soll auf bestimmte
Postleitzahlengebiete beschränkt werden können. Die Bezahlkarte soll die
Überweisung der Geldleistungen auf ein eigenes Konto ersetzen.
Ein wesentliches Argument ist dabei der Verdacht und der Vorwurf, dass
Geflüchtete Geld in ihre Heimatländer bzw. an Menschen überweisen würden, die
ihre Flucht organisiert haben („Schlepper“). Wissenschaftlich belastbare Belege
gibt es hierfür nicht. Zwar schätzt die Bundesbank, dass 2023 etwa 6,8
Milliarden Euro als Rücküberweisungen ins Ausland flossen, davon 75 % in EU-
Mitgliedstaaten. Aber die Zahlen beruhen allein auf Schätzungen im Rahmen der
Zahlungsbilanz. Meldungen zu einzelnen Geldüberweisungen erhält die Bundesbank
nur bei Überweisungen von über 12.500 Euro. Besonders für Länder, in denen kein
funktionierendes Banken-System existiert – wie zum Beispiel Syrien oder
Afghanistan – werden die Rücküberweisungen auf Basis der jeweiligen
Staatsangehörigen dieser Länder, die in Deutschland beschäftigt sind, seit jeher
nur geschätzt. Rückschlüsse auf Leistungsempfänger*innen sind ausdrücklich nicht
möglich und es ist mit Blick auf die großen Communities in Deutschland
anzunehmen, dass nennenswerte Zahlungen durch erwerbstätige Menschen erfolgen,
die über deutlich höhere finanzielle Möglichkeiten verfügen. Rücküberweisungen
sind zudem eine wichtige und effektive Form der Unterstützung und
Entwicklungshilfe für die Familien in den Herkunftsländern. Sie per se in Frage
zu stellen und Menschen einen Vorwurf daraus zu konstruieren, dass sie Geld in
ihre Heimatländer transferieren, finden wir befremdlich.
Insofern ist das ganze Konstrukt der Bezahlkarte mit Einschränkungen für
Überweisungen oder Bargeldabhebungen aus unserer Sicht auf einer Fehlannahme
aufgebaut und begründet. Nicht nur deshalb lehnen wir als GRÜNE diese
Einschränkungen daher entschieden ab. Alle Menschen müssen selbst entscheiden
können, wie sie über die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel verfügen. Eine
Personengruppe davon staatlicherseits auszunehmen, stellt eine klare Form der
Diskriminierung dar, weswegen sich auch die Antidiskriminierungsbeauftragte des
Bundes entschieden gegen die Einschränkungen bei der Bezahlkarte ausgesprochen
hat. Es ist zudem sehr zweifelhaft, ob derartige Einschränkungen im Falle von
Klagen einer Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht standhalten.
Eine Bezahlkarte mit Einschränkungen hat aus unserer Sicht enorme
Alltagsprobleme für die Geflüchteten zur Folge.
An der Idee der Bezahlkarte für einen unbürokratischeren Ablauf halten wir
gleichwohl fest als ein mögliches Element, Belastungen in der Verwaltung sowie
für die Leistungsempfänger*innen durch Digitalisierung zu reduzieren.
Wir fordern daher, dass das jetzt auf Druck der SPD viel zu schnell eingeführte
Modellprojekt der Bezahlkarte schnell evaluiert und dann entsprechend in der
Ausgestaltung korrigiert wird. Grundsätzliches Ziel der Ausgestaltung muss es
dabei sein, Bürokratie abzubauen und gleichzeitig Stigmatisierung und
Grundrechtsbeschneidungen zu vermeiden.
Die Evaluation in Hamburg darf sich nicht nur auf die technische
Funktionsfähigkeit beschränken, sondern muss mindestens folgende Fragen
beantworten:
- Ist der Zugang zu günstigen Gebrauchtwaren von Privatpersonen z.B. über
Portale wie eBay-Kleinanzeigen, in Tauschläden oder auf dem Flohmarkt
sichergestellt?
- Können Kinder sich unabhängig von den Erwachsenen z.B. mit dem ÖPNV
bewegen und sind Barzahlungen in den Schulen und Kitas sichergestellt?
- In wie vielen Geschäften des Einzelhandels ist überhaupt eine Bezahlung
mit Debitkarten möglich? Können Geflüchtete entsprechend frei entscheiden,
wo sie einkaufen und was?
- Wie können Geflüchtete mit Konto Verträge über Strom, Handy, Sportverein
etc. abschließen, wenn die Leistungen nicht auf das Konto, sondern auf die
Bezahlkarte gebucht werden?
- Sind Zusatzgebühren sowie Mindestumsätze beim Einkauf ausgeschlossen?
Nach unserer derzeitigen Einschätzung muss eine Bezahlkarte folgende Standards
erfüllen, um Diskriminierung und Stigmatisierung wirklich zu vermeiden und
gleichzeitig bürokratieentlastend zu wirken:
- Keine Einschränkung der Bargeldabhebungen
- Keine Einschränkung des bargeldlosen Zahlungsverkehrs
- Keine Gebühren beim Einsatz der Karte und bei der Bargeldabhebung
- Keine regionale Beschränkung der Bezahlkarte
- Kein Ausschluss bestimmter Händlergruppen, Branchen, Dienstleistungen oder
des Online-Handels.Die Bezahlkarte muss überall eingesetzt werden können.
- Jede erwachsene Person muss für eine getrennte Bewegungsfreiheit eine
eigene Bezahlkarte erhalten.
- Sicherstellung von Datenschutz und informationeller Selbstbestimmung
- Möglichkeit des Abschlusses von Verträgen mit regelmäßigen Abbuchungen,
z.B. für Mobilfunk oder Sportvereine
- Für Menschen, die über ein eigenes Konto verfügen, müssen die Mittel
weiterhin vorrangig auf dieses überwiesen werden können.
Für uns ist klar: nur mit einer gerecht ausgestalteten Bezahlkarte, die
Diskriminierung und Stigmatisierung vermeidet, geht Hamburg wirklich einen
Schritt voran anstatt zurück und bleibt die weltoffene Stadt, als die sie
bekannt ist. Denn Abschottung ist immer ein Rückschritt, nur gemeinsames
solidarisches Agieren bringt uns wirklich voran!
Begründung
Während wir in Hamburg die Debatten auf europäischer Ebene und Bundesebene zur Politik für Geflüchtete nur begleiten und kommentieren können, haben wir für die Maßnahmen vor Ort Mitverantwortung und müssen dieser gerecht werden. Während dies beim Thema der öffentlich-rechtlichen Unterbringung innerhalb der Koalition gut gelingt, haben wir bei der Frage, wie die Leistungen für Asylbewerber*innen ausgezahlt werden, einen Dissens innerhalb der Koalition.
Einigkeit besteht hinsichtlich der Frage, dass die Digitalisierung in Form einer Bezahlkarte grundsätzlich zu begrüßen ist. Monat für Monat Bargeld abzuholen ist für die Betroffenen ein ebenso unnötiger Aufwand wie für die Verwaltung, die diesen Vorgang Monat für Monat abwickeln muss. Deshalb begrüßen wir die grundsätzliche Idee einer Bezahlkarte, wie sie auch in Hannover schon eingeführt wurde.
Allerdings muss diese Karte diskriminierungsfrei sein und darf nicht mit Einschränkungen versehen sein. Hierzu gehören zum Beispiel der beschränkte Zugang zu Bargeld oder die Beschränkung auf bestimmte Einsatzmöglichkeiten im Handel.
Die Debatte um die Bezahlkarte ist noch nicht beendet. Der vorgelegte Antrag ist ein Beitrag zur grünen Positionierung innerhalb dieser Debatte.