Veranstaltung: | Landesmitgliederversammlung Hamburg |
---|---|
Tagesordnungspunkt: | 9 Anträge |
Antragsteller*in: | Landesvorstand GRÜNE Hamburg (dort beschlossen am: 03.04.2024) |
Status: | Geprüft |
Verfahrensvorschlag: | Abstimmung |
Eingereicht: | 04.04.2024, 18:39 |
A10: Jetzt Zeichen setzen für mehr Demokratie: Bürger*innenräte in Hamburg auf Landes- und Bezirksebene
Antragstext
Vorbemerkung
Dieser Antragstext ist im KoK Klima entstanden, der über kein eigenes
Antragsrecht verfügt.
Der Landesvorstand unterstützt den Antrag aber vollumfänglich. Wir reichend den
Antrag des KoKs deshalb in unserem Namen und mit unserem Antragsrecht ein.
Hintergrund
In den letzten Tagen und Wochen haben sich Hunderttausende Menschen in ganz
Deutschland friedlich versammelt, um sich für den Erhalt der Demokratie und
unser Grundgesetz einzusetzen, gegen eine autoritäre und menschenfeindliche
Agenda radikaler rechtsgerichteter Gruppen.
Dieses deutliche Zeichen der Bürger*innen sollte von Seiten der Politik
aufgegriffen werden und ein Mehr an Demokratie gewagt werden. Eine Chance dazu
bieten Beteiligungsverfahren, in denen Menschen ihre Kompetenz einbringen, ihren
Bedürfnissen Geltung verschaffen und sich mit anderen austauschen können.
Studien zeigen, dass das Mitwirken an Entscheidungsverfahren als gelebte
demokratische Praxis empfunden wird und so wesentlich zu einer Stärkung der
Demokratie beiträgt.
Die repräsentative Demokratie, als Grundpfeiler für politische Entscheidungen,
kann im Sinne einer lebendigen und vielfältigen Demokratie durch zwei Säulen
ergänzt und gestärkt werden: Der direkten Demokratie (Volks- und
Bürgerentscheide) und der dialogischen/deliberativen Demokratie (z. B.
Bürger*innenräte)(1).
Bürger*innenräte haben sich als ein wichtiges Instrument bewährt, um eine breite
Beteiligung der Bürger*innen bei geplanten Maßnahmen zu gewährleisten, ihre
Zustimmung zu gewinnen und eine effektive Umsetzung zu unterstützen. Seit 2019
sind 6 nationale Bürger*innenräte auf Bundesebene durchgeführt worden, z.B zu
“Deutschlands Rolle in der Welt”, zur “ Nationalen Klimapolitik” und zuletzt zu
“Ernährung im Wandel”; mehr als 80 kommunale Bürger*innenräte wurden zu
unterschiedlichsten Themen von diversen Gruppen eingeleitet(2). Bürer*innenräte
ergänzen die in einigen Stadtteilen existierenden Stadtteilbeiräte tendenziell
ohne parteipolitische Strategien. Sie sind eine Beteiligungsform, die punktuell,
thematisch orientiert und projektgebunden vom Bezirksamt oder den Fachbehörden
organisiert werden.
Die Kernqualitäten von Bürger*innenräten lassen sich grob in drei Punkten
darstellen:
Sie erarbeiten durchdachte und inhaltlich abgewogene Empfehlungen.
Wegen der gelosten Zusammensetzung der Teilnehmenden und der intensiven
Deliberation/Beratschlagung mit Expert*innen und Entscheidungsträger*innen
weisen die Ergebnisse eine hohe Legitimität auf und erhöhen das Vertrauen
der gesamten Bevölkerung in Entscheidungsprozesse und getroffene
Maßnahmen.
Sie schaffen Räume für ein verändertes Miteinander, politische
Wirksamkeitserfahrungen und gelebte demokratische Praxis.
Entscheidend ist, dass die diskutierten Themen tatsächlich auf der jeweiligen
Ebene vom jeweiligen Adressaten (z.B zuständigen Politiker:innen,
Entscheidungstragenden, Bezirksamt) angegangen werden können. Je nach Thema ist
es daher essentiell wichtig auszuwählen, wie und welcher Art und Weise und
welchem Umfang der Bürger*innenrat durchgeführt werden soll und welche
Akteur*innen eingebunden werden. Das im Februar 2024 erschienene “Handbuch
kommunale Bürgerräte” von Mehr Demokratie e.V. in Kooperation mit dem Institut
für Demokratie- und Partizipationsforschung (IDPF) Wuppertal und dem
Forschungsinstitut für Nachhaltigkeit (RIFS) in Potsdam gibt detaillierte
Empfehlungen für die Umsetzung unterschiedlicher kommunaler Bürger*innenräte.
Ziel
Die Chance, und das ist auch unsere Zielvorstellung, Entscheidungen zu
bestimmten, umstrittenen oder sensiblen Sachverhalten von direkt betroffenen
oder involvierten Menschen, unabhängig von parteipolitischen Interessen, zu
erarbeiten, bringt in den Quartieren oder bei Akteur*innen für die zu
bearbeitenden Themenfeldern eine breitere Zustimmung, als wenn eine Partei
entsprechende Vorschläge macht, da andere Parteien tendenziell politische Ziele
dagegen stellen.
Unsere Forderung: Bürger*innenräte auf Landes-, Bezirks- und Quartiersebene
unterstützen
Wir fordern Bürger*innenräte auf Landes-, Bezirks- und Quartiersebene dann
einzusetzen, wenn grundlegende Veränderungen, die die jeweiligen Bürger*innen
oder Gruppen von Bürger*innen betreffen, sinnvollerweise von diesen erörtert,
diskutiert und Entscheidungsvorlagen erarbeitet werden können.
Dafür fordern wir,
grüne Mandatsträger*innen der Bezirksversammlungen und der Hamburger
Bürgerschaft, sowie unsere Senatores auf, das Konzept Bürger*innenräte zu
unterstützen.
auf Landesebene eine parlamentarische Befassung mit dem Konzept
Bürger*:innenräte mit dem Ziel dieses Instrument in Hamburg an geeigneter
Stelle durchzuführen.
ein auskömmliches Budget für die Behörde für Wissenschaft, Forschung,
Gleichstellung und Bezirke, um die Bezirke federführend zu beraten und
ihnen die Möglichkeiten für die Einsetzung von Bürger*innenräten zu
ermöglichen.
personelle und finanzielle Ressourcen für die Begleitung durch
professionelle Akteur*innen. Dabei sollte die Finanzierung sowohl auf
Landesebene als auch auf Bezirksebene von der/den Behörde/n, die den
Bürger*innenrat beauftragt hat, erfolgen.
Fortbildungen von Mitarbeiter*innen in den Bezirksämtern und in
Fachbehörden hinsichtlich des Zwecks und der Umsetzung von
Beteiligungsmethoden wie z.B. Bürgerinnenräten zu verstetigen.
eine frühzeitige und enge Einbindung sowie Kommunikation mit den Behörden
und Ämtern, um das Risiko der Enttäuschung der beteiligten Bürger und
Bürgerinnen durch Nichtbeachtung ihrer Empfehlungen oder fehlende
Kommunikation, wie es zu etwaigen anderweitigen Entscheidungen gekommen
ist, zu minimieren.
unabhängige Expert*innen und fachkundige Menschen bei der Umsetzung von
Bürger*innenräten mit einzubeziehen.
festgelegte Öffentlichkeitsarbeit hinsichtlich der Arbeit und der
Ergebnisse des Bürger*innenrates.
Auf Landesebene ist auch eine Kombination von Bürger*innenrat und
Stakeholder*innenrat denkbar. Dieses Modell hat sich insbesondere für
industrieintensive Gemeinden/Länder als erfolgreich erwiesen(3).
Zusammensetzung der Bürger:innenräte
Die Berufung eines Bürger*innenrats erfolgt üblicherweise durch einen zufälligen
Auswahlprozess, bei dem Personen aus dem Melderegister datenschutzkonform(4)
anteilig pro Bezirk per Losverfahren ausgewählt werden. Um sicherzustellen, dass
der Bürgerrat eine repräsentative Zusammensetzung hat, werden zusätzlich
soziodemografische Kriterien wie Alter, Geschlecht, Bildungsabschluss und
Migrationshintergrund berücksichtigt. Hierfür werden die Ausgelosten
angeschrieben und eingeladen, sich für eine Teilnahme am anstehenden Bürgerrat
zu bewerben. Dabei machen die Bewerber*innen Angaben, die aus den
Einwohnermelderegistern nicht hervorgehen, wie bspw. zum Bildungsabschluss oder
Migrationshintergrund. Anhand dieser Angaben und den bereits vorhandenen Daten
zu Geschlecht, Alter und Wohnort wird eine Gruppe gebildet, die in ihrer
Zusammensetzung ein möglichst gutes Abbild der Bevölkerung darstellt. Alle
Quartiere der inneren und äußeren Stadt und auch Gruppen, die erfahrungsgemäß
weniger auf Einladungen reagieren, sollten vertreten sein. Dies betrifft
insbesondere Menschen ohne akademischen Hintergrund. Dieses könnte man über das
Zufallsprinzip und die Berücksichtigung insbesondere der Quartiere, in denen
Menschen mit vergleichsweise weniger Kaufkraft leben, erreichen.
Um sicherzustellen, dass auch Menschen teilnehmen, die weniger an dem jeweiligen
Thema interessiert sind, gibt es verschiedene Ansätze, um die Rekrutierung zu
verbessern. Hier haben die Institute, die schon häufiger Bürger*innenräte
durchgeführt haben, weitreichende Erfahrung. Auf diese Expertise sollte auf
jeden Fall zurückgegriffen werden. Mögliche Ansätze sind: Gezielte
Haustüransprache, Schaffung von spezifischen Anreizen, individuelle Schreiben
oder persönliche Gespräche über Vorteile und Chancen einer Teilnahme,
Aufwandsentschädigungen, Kinderbetreuung und technische Hilfe etc. Durch eine
Kombination dieser Ansätze kann eine breitere Vielfalt an Teilnehmer*innen
erreicht werden und sollte mit den durchführenden Instituten je nach
Fragestellung intensiv beraten werden.
Gruppengröße: Die Gruppengröße liegt in der Regel zwischen 10 und 20 Personen
auf Quartiersebene, 35 und 50 Personen auf Bezirksebene und bei 100 bis 150
Personen auf Landesebene. Durch diese Größe wird angestrebt, die Vielfalt der
verschiedenen Positionen in der Gesellschaft angemessen abzubilden.
Alternativ kann nach einem bezirklichen Modell aus Wien eine kleinere Gruppe von
Teilnehmenden als Jury aus Büger*innen fungieren. Dabei wird die Bevölkerung
aufgerufen, Ideen einzubringen, die von der Jury bewertet, ggf. prämiert,
evaluiert und dann auf der entsprechenden Ebene eingefordert werden. Das kann
entweder aus Kostengründen interessant sein, aber auch als Ergänzung laufender
Verfahren, um zu erkennen, wo die Menschen sich auf Veränderungen einlassen
würden und wo eher eine Kommunikationsstrategie entwickelt werden muss.
Durchführung des Auswahlverfahrens, Moderation und Dokumentation
Um die Qualität des Auswahlverfahrens sowie eine qualifizierte Moderation und
Dokumentation sicherzustellen, wird empfohlen, unabhängige
Durchführungsinstitute zu beauftragen.
Folgende vier Institutionen werden von uns empfohlen
Ergebnisse:
Die Empfehlungen werden in Form eines Bürger*innengutachtens der Hamburgischen
Bürgerschaft oder den Bezirksversammlungen vorgelegt und dort beraten. Von
größter Bedeutung ist, dass sich alle Beteiligten einig sind, dass ein
Bürger*innenrat hilfreich ist und dass dessen Empfehlungen als Bereicherung
angenommen werden.
Zitat Bundespräsident a.D. Horst Köhler: „Wenn Deutschland die Pariser
Klimaziele erreichen will, ist eine große gesellschaftliche
Veränderungsbereitschaft vonnöten. Darum ist es so wichtig, dass Bürgerinnen und
Bürger an der Suche nach Lösungen beteiligt werden – und dass die Politik ihre
Vorschläge ernst nimmt”
Verstetigung:
Um die Empfehlungen der Bürger*innenräte zu verstetigen und eine weitere
Zusammenarbeit sicherzustellen, auch wenn die Regierung wechselt, können
verschiedene Maßnahmen ergriffen werden. Dazu gehören regelmäßige
Berichterstattung durch die Behörden an die Mitglieder der Bürger*innenräte über
die Umsetzungen, Einbindung der Bürger*innenräte in Ausschüsse, Einrichtung
bezirklicher Klimazentralen, in denen Mitglieder der Bürger*innenräte eine
aktive Rolle in der Organisation und Kommunikation dieser Zentralen übernehmen.
Um die Mitglieder der Bürger*innenräte als Kommunikatoren und Multiplikatoren zu
gewinnen, könnten sie in verschiedenen Bereichen aktiv werden, wie z.B:
gemeinsame Informationsveranstaltungen oder Workshops in den Bezirken, an
Schulen und Stadteilzentren, um die Bürgerinnen und Bürger über die Arbeit des
Bürger*innenrates und die erzielten Ergebnisse zu informieren.
[1] Krenzer, S. und Socher, S. (2024), Kommunale Bürgerräte organisieren.
Handbuch für den Weg von der ersten Idee bis zur Verwendung der Empfehlung.,
Hrsg.: Mehr Demokratie e. V., IDPF Wuppertal, RIFS Potsdam, S. 13
[2] https://deutschlands-rolle.buergerrat.de/dokumentation/ : Evaluation von
Bürgerräten auf Bundesebene und Empfehlungen an den Bundestag durch IASS
(Institute for Advanced Sustainability Studies) und vom IDPF (Institut für
Partizipations- und Demokratieforschung der Bergischen Universität Wuppertal)
[3] Partizipative Klimapolitik: Wie die Integration von Stakeholder-und
Bürger*innenbeteiligung gelingen kann. Daniel Oppold, Ortwin Renn. dms – der
moderne Staat, Jg. X, Heft X/20XX, 1–23
[4]Dokument Stabsstelle Bürgerräte Deutscher Bundestag zum Datenschutz:
Unterstützer*innen
- Tonja Körner-Uhlmann (KV Hamburg-Nord)
- Ursula Jäger (KV Hamburg-Eimsbüttel)
- Sarah Pscherer (KV Hamburg-Harburg)
- Gerhard Delfs (KV Hamburg-Eimsbüttel)
- Maike Hansen (KV Hamburg-Eimsbüttel)
- Philipp Karl Witte (KV Hamburg-Altona)
- Bastian Höpfner (KV Hamburg-Harburg)
- Ingo Schreep (KV Hamburg-Wandsbek)
- Jennifer Jasberg (KV Hamburg-Bergedorf)
- Lars Boettger (KV Hamburg-Altona)
- Nils Potthast (KV Hamburg-Bergedorf)
- Monika Linek (KV Hamburg-Nord)
- Axel Buehler (KV Hamburg-Altona)
- Kathrin Engel (KV Hamburg-Eimsbüttel)
- Sebastian Dorsch (KV Hamburg-Eimsbüttel)
- Jim Martens (KV Hamburg-Eimsbüttel)
- Malte Deutschmann (KV Hamburg-Eimsbüttel)
- Mechthild Weber (KV Hamburg-Wandsbek)
- Björn Falenski (KV Hamburg-Wandsbek)
- Lena Schwarzer (KV Hamburg-Eimsbüttel)
- Ute Groll (KV Hamburg-Altona)
- Martin Oberfell (KV Hamburg-Harburg)