Veranstaltung: | Landesmitgliederversammlung Hamburg |
---|---|
Tagesordnungspunkt: | 9 Anträge |
Antragsteller*in: | Anna Gallina |
Status: | Geprüft |
Verfahrensvorschlag: | Abstimmung |
Eingereicht: | 05.04.2024, 00:00 |
A14: Humanitäre Hilfe ist kein Verbrechen
Antragstext
Sie suchen auf der tödlichsten Fluchtroute der Welt nach Menschen in Seenot,
kämpfen gegen das Ertrinken oder sie unterstützen schutzsuchende Menschen mit
einer basismedizinischen Versorgung in Griechenland und auf dem Balkan. In den
vergangenen Jahren gaben viele Ehrenamtliche in verschiedenen Staaten der
Europäischen Union alles dafür, Menschen auf dem Mittelmeer vor dem Ertrinken zu
retten oder ihnen an Land zu helfen. Es ist eine konstruktive Antwort, eine
menschenrechtsbasierte Antwort auf das Scheitern der Migrationspolitik Europas.
Es ist eine Antwort die tausende Menschenleben gerettet hat. Eine Antwort, die
politische und gesellschaftliche Unterstützung und Anerkennung verdient.
Die Europäische Union hat nicht die Kraft aufgebracht sichere Fluchtwege zu
schaffen; sie hat es nicht geschafft, eine gemeinsame solidarische
Flüchtlingspolitik zu machen. Die Konsequenzen sind verheerend für die Lage der
Menschenrechte und damit für Millionen schutzsuchende Menschen. Obwohl es kein
europäisches Land gibt, das es sich ökonomisch leisten kann in Zukunft auf
Zuwanderung verzichten kann, reagieren viele Staaten mit strengeren Regeln und
die EU mit einer neuen gemeinsamen Außen und Sicherheitspolitik, die ebenfalls
darauf angelegt ist, Menschen die so prekär leben, dass sie fliehen, die
Umstände der Flucht bzw. deren Erfolgsaussichten zu erschweren.
Anstatt wirklich Ordnung im Sinne der Durchsetzung von internationalem Recht
herzustellen, werden Menschen auf der Flucht seit Jahren systematisch entrechtet
und kriminalisiert.
Die zivilen Seenotretter:innen die auf Grundlage des internationalen Rechts
Menschen vor dem Ertrinken retten und sie dann in einen sicheren Hafen bringen
müssen, sehen sich bereits seit Jahren ebenfalls zunehmender, systematischer
Kriminalisierung und Drangsalierung gegenüber. Die sogenannte lybische
Küstenwache richtete mehrfach scharfe Waffen auf deutsche Seenotretter:innen,
die italienische Politik setzt deutsche Rettungsschiffe fest und verletzt damit
auch die Rechte des deutschen Flaggenstaates, weil nur die deutschen
Flaggenstaatsbehörden das Verhalten deutscher Schiffe in internationalen
Gewässern regulieren und sanktionieren dürfen. Oder Italien verhindert direkt
und wochenlang den so wichtigen Einsatz der Rettungsschiffe mit fadenscheinigen
Begründungen, sodass für viele Menschen in Seenot keine Hilfe mehr kommen kann.
Die Zahl der Todesopfer ist in 2023 im Vergleich zum Vorjahr wieder angestiegen.
All das ist nicht neu. All das kennen wir. Gegen all das haben wir als Grüne
politisch in Deutschland und Europa gekämpft. Wir haben stets staatliche
Rettungsmissionen gefordert- damit die Staaten der Europäischen Union selbst
dafür sorgen, dass Menschenrechte wirklich universell und unteilbar sind. Doch
wir müssen anerkennen, dass wir an dieser Stelle politisch versagt haben.
Auch Deutschland hat es nicht vermocht, sich in der aufgeheizten und teils sehr
unsachlich und wissenschaftlich wenig fundiert geführten Migrationsdebatte dem
Trend des Abbaus von Rechten Schutzsuchender entgegenzustellen.
Seit 2015 gab es in Deutschland bereits vier Gesetzgebungsvorhaben, die das Ziel
verfolgt haben, Abschiebungen zu forcieren. Mit dem sogenannten
Rückführungsverbesserungsgesetz hat die Koalition aus SPD, Grünen und FDP im
Bund das fünfte Gesetz mit der gleichen Zielrichtung beschlossen und damit
erhebliche Rechtsunsicherheiten für die zivile Seenotrettung und die Humanitäre
Hilfe an Land geschaffen.
Das Gesetz hat neben anderen Maßnahmen den Straftatbestand des § 96 Abs. 4
Aufenthaltsgesetz (AufenthG) auch auf Fälle altruistischer Hilfeleistung zur
unerlaubten Einreise in einen EU- oder Schengen-Staat erstreckt. Bislang waren
von dieser Strafnorm nur Fälle eigennütziger Hilfeleistung erfasst, die
ursprünglich für gewerbsmäßige Schleuser konzipiert wurde, die sich für die
Einschleusung von Ausländer:innen meistens sehr hoch entlohnen lassen.
Seenotretter:innen retten Menschen auf dem offenen Meer vor dem Ertrinken und
erfüllen anschließend ihre rechtliche Pflicht, sie an einen sicheren Ort zu
bringen. Erst dann ist eine Rettung abgeschlossen. Bisher waren sie von dem
Tatbestand nicht erfasst.
Erst nach massivem Widerstand von Menschenrechtsorganisationen,
Anwaltsvereinigungen und ihren Unterstützer:innen im Parlament, einschlägigen
Rechtsgutachten und medialer Debatte[1] wurden Änderungen im
Rückführungsverbesserungsgesetz vorgenommen um eine Kriminalisierung der
Seenotretter:innen auszuschließen. Dabei wurde allerdings eine Normenkette
übersehen, die dies auch eindeutig für die Rettung von minderjährigen
unbegleiteten Geflüchteten festschreiben muss.
Das bringt die Seenotretter:innen in eine absurde und gleichzeitig unhaltbare
Situation: die Unterstützung erwachsender Menschen in Seenot ist nicht vom
Strafbarkeitsrisiko erfasst. Sobald aber unbegleitete Minderjährige gerettet und
in EU- oder Schengenstaaten verbracht werden, ergeben sich erhebliche Risiken
einer Kriminalisierung der zivilen Seenotrettung.
Das Bundesinnenministerium behauptet, wie auch schon im ersten Aufschlag für die
Neufassung des § 96 Abs. 4 AufenthG, dass hier kein Risiko für die
Seenotretter:innen bestünden. Zwar teilen wir die Auffassung, dass das Verhalten
ziviler Seenotretter:innen beim Rettungsvorgang und bei der Verbringung in einen
Ausschiffungshafen zwar nach § 34 StGB gerechtfertigt ist. Diese Position ist
jedoch weder unstreitig, noch ist die künftige Rechtsprechung vorhersehbar, denn
„eine abweichende Rechtsauffassung kann hier nur vertreten, wer die Augen vor
der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs verschließt. Dieser vertritt nämlich
die Position, dass die ausdrückliche Bezugnahme in § 96 Abs. 4 AufenthG auf § 96
Abs. 2 AufenthG zur Konsequenz hat, dass es nicht darauf ankommt, ob die
Hilfeleistung aus eigennützigen oder altruistischen Motiven erfolgt. Natürlich
kann man als Gesetzgeber darauf hoffen, dass der Bundesgerichtshof diese
Position einschränkt. Aber eine rechtssichere Regelung sieht anders aus“, sagt
Prof. Dr. Aziz Epik, Juniorprofessor für Strafrecht, Internationales Strafrecht
und Kriminologie an der Universität Hamburg.
Als Grüne ist für uns klar: Es dürfen nicht die Menschen kriminalisiert werden,
die anderen das Leben retten und dabei private Ressourcen einsetzen, um
Staatsversagen zu kompensieren. Und wir dürfen sie auch nicht derartigen
Unsicherheiten aussetzen. Allein das Risiko sich eines Ermittlungsverfahren
ausgesetzt zu sehen mit allen Folgen, die das persönlich und wirtschaftlich
haben kann, gilt es auszuschließen.
Deshalb fordern wir unsere grüne Bundestagsfraktion und die gemeinsame Koalition
im Bund nachdrücklich auf, hier Rechtssicherheit herzustellen, indem ein
Tatbestandsausschluss für Fälle humanitärer Unterstützung eingeführt wird, wie
er den Mitgliedstaaten der EU ausdrücklich in Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie
2002/90/EG ermöglicht wird.
Die zivile Seenotrettung und die humanitäre Hilfe an Land haben darüber hinaus
unsere politische Solidarität. Denn wo gilt „you’ll never walk alone“ muss auch
gelten: „we leave no one behind”.